Freitag, 14. Oktober 2011

Wird die Uni zum Gymnasium und umgekehrt?

Zu Beginn der 90er Jahre setzte im Schweizer Bildungssystem - gerade auch auf der Sekundarstufe II (Gymnasium) - eine Reformwelle ein, die bis heute nicht abgeebt ist und bisweilen wichtige Fundamente des Systems weg zu errodieren scheint.
Reformen sind gut und immer mal wieder nötig, doch bekommt man im Bildungssektor den Eindruck, dass primär mal reformiert wird des Reformierens willen. Schliesslich brauchen ja die Bildungsexperten - damit sind nicht die Lehrer gemeint, denn die werden ja selten gefragt - auch Arbeit für den Broterwerb.

Der neuste Schrei auf Stufe Gymnasium heisst "SOL". Hinter diesem Kürzel steckt das Prinzip des "Selbstorganisierten Lernens." Die Idee dahinter ist, dass die Lernenden auf selbständiger Basis über längere Zeit sich selber einen Stoff aneignen sollen, um so ihr eigenes Lernverhalten steuern zu lernen. Sie sollen so auf das lebenslange Lernen vorbereitet werden. Die Lehrer haben primär beratende Funktion.

Gegen diese Grundidee ist ja auch gar nichts einzuwenden. Doch jetzt geht man an vielen Gymnasien daran, mit grossem Tamtam und Brimborium eigentliche "SOL-Konzepte" umzusetzen, SOL wird zum Pflichtteil und geradezu zum neuen heiligen Gral der Pädagogik. Im Kanton Zürich ist man dazu übergegangen, ganze Semester mit SOL zu gestalten. Die offizielle Begründung: die Maturanden auf die Uni vorzubereiten, die inoffizielle: Sparen!
Und vielleicht sollte man sich auch mal zwei, drei kritische Fragen stellen:
  1. Viele Lehrpersonen praktizieren SOL schon heute im Unterricht. So sind ja auch Einzelvorträge, Hausarbeiten oder die Maturaarbeit nichts anderes als SOL. Ist es also zwingend notwendig, jetzt noch viel Ressourcen, Zeit und Energie in etwas zu stecken, das schon lange den Einzug in die Klassenzimmer gehalten, wenn auch nicht als grossspuriges Projekt?
  2. Steht wirklich die Förderung der Schülerinnen und Schüler im Mittelpunkt oder sind es Sparinteressen? Erfahrungen zeigen nämlich folgendes Bild: die guten Lernenden sind auch bei SOL-Projekten gut und die schwächeren Lernenden sind noch schlechter. Wem soll also geholfen werden?
  3. Dient der riesige SOL-Aufwand, der jetzt betrieben werden soll, wirklich der Studierfähigkeit an der Uni? Das mag stark bezweifelt werden, wenn man sich die Entwicklung an den Unis mal anschaut. Dort geht der Trend seit der Einführung von "Bologna" klar in eine andere Richtung: es besteht Anwesenheitspflicht, für jeden Mückenschiss muss man einen "Leistungsnachweis" erbringen und am Ende des Tages noch zu jedem noch so belangelosen Teilfach ein semesterlanges Tutorat besuchen, natürlich auch wieder mit Anwesenheitspflicht. Wo bitte schön ist da denn die Selbständigkeit geblieben? Während die Gymnasien nun versuchen, ihre Absolventen auf Selbständigkeit zu trimmen, wird denselbigen ein Jahr später das von den Unis wieder abtrainiert. Was die Unis heute verlangen ist nicht "Selbstorganisiertes Lernen" sondern nur noch "Lernen". Dass dieses Lernen immer noch selber gesteuert und organisiert werden muss, versteht sich von selbst, denn sonst geht lernen schlicht und einfach nicht. Man kann es nicht auslagern an jemand anderes. Doch das war früher so, das ist heute am Gymnasium so, das ist an der Berufsschule etc so, das ist einfach so.

Kurz: es ist nicht ganz einsichichtig, wieso heute so viel Energie und Zeit auf etwas verschwendet werden soll, dass erstens schon lange existiert und zweitens in dieser Form - und das ist am meisten zu bedeuern - von der abnehmenden Institution - der Uni - nicht mehr wirklich verlangt wird.

Die Verschaukelung des Mittelstandes

Die meisten Schweizer zählen sich zum Mittelstand, bildet diese Gesellschaftsschicht doch mit über 60% den weitaus grössten Anteil der Bevölkerung. Der Definitionen, wer denn nun genau zum Mittelstand gehört, sind einige, so z.B. zählt dazu, wer mindestens 2450, maximal 5250 Franken netto pro Kopf der Familie verdient. Eine dreiköpfige ­Familie mit einem sechsjährigen Kind bei einem Einkommen zwischen 5500 und 11'800 Franken gehört also dazu. (Quelle: beobachter.ch)

Und obwohl der Mittelstand die tragende Schicht der Schweiz und der Schweizer Gesellschaft ist, gibt wird sie doch hemmungslos von allen Seiten verschaukelt und für dumm verkauft, und dies gleich in mehreren Bereichen.

Zum einen gibt es eine Benachteiligung gegenüber unten. So können Mittelstandsfamilien weder mit Prämienverbilligungen für die Krankenkassen - obwohl diese immer stärker steigen - rechnen noch in den meisten Kantonen die Hoffnung hegen, je Stipendien für Ausbildung ihrer Kinder zu bekommen. Kinderkrippenplätze werden nicht nur nicht mit Zulagen bezuschusst, nein, aufgrund des höheren Einkommens und der in den meisten Kinderkrippen geltenden Progression der Beiträge muss man auch noch mehr bezahlen. Als ob ein Mittelstandskind mehr Aufwand bedeuten würde als ein Unterschichtenkind! Und eins oben drauf setzt noch ein Steuersystem, das es für viele Familien unattraktiv macht, beide Elternteile arbeiten zu lassen. Denn je nachdem fällt man durch das zusätzliche Einkommen in eine höherer Steuerklasse und muss so am Schluss mehr bezahlen als vorher. Miet- und sonstige Zuschüsse? (zu Recht) Fehlanzeige.

In diesem Punkt kommt die Benachteiligung nach oben ins Spiel: in den letzten 10 Jahren wurde häufig über die Plafonierung der Spitzensteuersätze gesprochen oder Steuersenkungen für Reiche. Das Ziel: reiche Steuerzahler anlocken. Interessanterweise war dies auch die Zeit der wachsenden Saläre in den Chefetagen. Als Verfechter des Leistungsprinzips - im Zusammenhang mit Banken wollen wir mal nicht davon sprechen - habe ich nichts gegen hohe Einkommen. Aber muss denn die gleiche Leistung gleich doppelt belohnt werden, mit hohem Einkommen und tieferen Steuern? Dass diese Politik - reiche Steuerzahler sollen Geld bringen - auch ein ziemlicher Schuss in den Ofen sein kann, zeigen z.B. die Gemeinden Wollerau und Feusisberg am Zürichseeufer. Dort haben die reichen Zuzüger als Folge steigender Mieten etc. mehr Steuersubstrat wegen wegziehender Mittelständler verdrängt als effektiv gebracht. Die Gemeinde steht also schlechter da. Und in Zug ist der Kanton gezwungen, in der Stadt Zug eigentiche Mittelstandsghettos einzurichten, damit sich Normalverdienenden das überhaupt noch leisten können. (zugegeben: diese profitieren auch von den tiefen Steuern ermöglicht durch die Unternehmen etc.)

Diese doppelte Benachteiligung nach oben und nach unten führt zu absurden, teilweise gar perversen Situationen. So lohnt es sich wie erwähnt für Paare, bei denen beide eine gute Ausbildung und ein entsprechendes Einkommen haben, aufgrund der zunehmenden Steuerbelastung und der steigenden Krippenkosten oftmals nicht, dass auch wirklich beide arbeiten gehen. Wir haben also ein System, das vorsätzlich gut qualifizierte Arbeitskräfte - häufig immer noch die Frau - an den heimischen Herd bindet und auf der anderen Seite dafür sorgt, dass jede Putzfrau - nichts gegen Putzfrauen, das ist keine Wertung! - häufig ohne echte Ausbildung arbeiten geht! Oder das System führt dazu, dass sich Mittelstandsfamilien ernsthaft überlegen, ob sie vielleicht noch ein zweites oder drittes Kind haben wollen, weil die finanziellen Ausgaben im vergleich zu den materiellen "Einnahmen" in Form von Kinderzulagen in keinem Verhältnis stehen. Auf der anderen Seite stellt sich diese Frage für die Unterschicht weniger, weil es ja Zuschüsse aller Art (Prämienverbilligung, Stipendien) gibt, und in der Oberschicht machen die Mehrkosten dann auch nicht mehr den grossen Budgetposten aus.

Dies sind nur einige Beispiele. Doch es wird rasch klar: die Mittelständler sind die grossen Deppen und "ewigen Verlierer" (NZZ) in diesem Land und merken es nicht einmal! Politische Diskussionen über mögliche Anpassungen dieses Systems werden aber auch immer mit schöner Regelmässigkeit von den politischen Polen her unterbunden. Von rechts kommt jeweils das Totschlagargument "Das kostet Arbeitsplätze!" Zudem huldigt man dort immer noch dem Glauben, dass tiefe Steuern für Reiche das Allheilmittel für Wirtschaftswachstum sind, während man von "Staatskindern" (das sind Kinder, die eine vom Staat geförderte Kinderkrippe besuchen) ein Übel per se sind. Und die Linken schwingen als argumentatorischer Totschläger jeweils die Moralkeule der sozialen Gerechtigkeit, dass man Solidarität üben müsse etc. Dass es volkswirtschaftlich wohl sinnvoller wäre, dass man die Putzfrau zu Hause Kinder hüten lassen und die Hochschulabsolventin dafür dank Krippenplätzen arbeiten lassen würde, darauf sind sie noch nicht gekommen.

Was wäre also zu tun? Es geht gar nicht darum, die Unterschicht bzw. Oberschicht bzw. den Mittelstand gegeneinander auszuspielen. Vielmehr sollten doch einfach gleichlange Spiesse für alle gelten und nicht der Mittelstand einen schönen Teil der Steuerlast tragen und dafür gleichzeitig mit höheren Abgaben geschröpft zu werden. Also:

  • Einheitlicher Steuer- und Abgabesatz für alle. Kein Progression, keine Degression, keine Plafonierung.
  • Erhöhung der Kinderabzüge bei der Steuererklärung, da Kinder "Ausgabenposten" Nr. 1 für den Mittelstand sind.
  • lineare Krippentarife und Förderung von Krippenplätzen durch grosszügigen Abzug von Betreuungskosten von den Steuern. (von mir aus soll der gleiche Abzug auf für Familien geltern, wo ein Elternteil fix zu Hause bleibt.)

Noch einige Fakten (Quelle: Beobachter.ch)

In den letzten 15 Jahren ist der mittlere Lohn um rund zwölf Prozent gestiegen, die Mieten aber um 16 Prozent – in den Städten deutlich stärker. Ebenfalls aus dem Ruder gelaufen sind die Gesundheitskosten. Familien, die keine Prämienverbilligung erhalten – im Kanton Zürich ist das ab rund 72'000 Franken Einkommen der Fall –, werden von den massiv gestiegenen Krankenkassenprämien voll getroffen. Der letzte Prämienanstieg bedeutet für eine vierköpfige Familie jährliche Mehrkosten von 1000 bis 1500 Franken.Auch in der Steuerpolitik hat der Mittelstand nur verloren. Von der Abschaffung der Erbschaftssteuer, den in vielen Kantonen halbierten Vermögenssteuern, der Senkung der Unternehmenssteuern und dem Trend hin zu immer mehr und immer höheren indirekten Abgaben profitierten in erster Linie die Reichen. Hinzu kommt die Verlagerung hin zu Gebühren, die Familien am härtesten trifft.