Samstag, 14. Januar 2012

Es war einmal...

Es war einmal ein Rechtsstaat.
Trotz seines hohen Alters von über 150 Jahren war er noch rüstig unterwegs und bei guter Verfassung. Auf ihn war verlass, man wusste, was man an ihm hatte. Doch
dann wurde er von zwei hartnäckigen Krankheiten befallen, die er einfach nicht mehr los wurde. Der „Populismusitis“ und dem „Alle Medien schreiben v.a. einander ab“-Fieber. Und plötzlich war alles anders. Früher, als der Rechtsstaat
noch fit war, galt zum Beispiel der Grundsatz der Unschuldsvermutung. Erst, wenn jemand einer Tat offiziell überführt wurde, wurde auch über ihn Gericht
gehalten. Auch der Anspruch „in dubio pro reo“ (im Zweifel für den Angeklagten) wurde hochgehalten. Das heisst, einem Beschuldigten musste ein Vergehen
bewiesen werden. Doch heute ist es scheinbar so, dass Angeschuldigte vor allem mal ihre Unschuld beweisen müssen. Und auch eine dritte Regel galt: „nulla poena sine lege.“ Keine Strafe ohne entsprechendes Gesetz. Wer also gegen kein Gesetz verstösst, kann auch nicht bestraft werden. Es ist ja schliesslich nicht sein Fehler, wenn es dieses Gesetz nicht gibt.

Doch wozu braucht es auch überhaupt so altbewähre Rechtsgrundsätze? Schliesslich ist der Rechtsstaat ja krank. Als Ersatz taucht eine neue Ordnung auf: die Moral. Überall wird nach
ihr gerufen. Sie wird auf Händen getragen und scheint den Platz des alternden Rechtsstaats
bald einzunehmen. Neu ist ja bekanntlich sexy.
Doch mit der Moral ist es so eine Sache, zumal sie von ihren Vertretern von Fall zu Fall mal so, mal anders definiert wird. So versuchten – man erinnere sich - diejenigen, die in unseren
Tagen am bedrohlichsten und wirksamsten mit der Moralkeule fuchteln, vor wenigen Wochen im vollen Bewusstsein der Tatsachen den Bewohnen der kränkelnden Rechtsstaates einen mutmasslichen Erbschaftsveruntreuer – also einen mutmasslichen Charakterlumpen - als Regierungsmitglied unterzujubeln. Moral ist also scheinbar das, was einem gerade in den Kram passt. Etwa so variabel wie die Tageskarte eines Speiserestaurants.
Lieber Rechtsstaat, ich wünsche Dir gute Besserung und hoffe, dass Du Deine leidigen Krankheiten los wirst. Denn ansonsten wird es bald heissen: er Ruhe in Frieden!